In den letzten Jahren wurden die späten Neandertaler besser erforscht. Neue Entdeckungen und Datierungen bringen die bis vor kurzem gängige Theorie, wonach der neu einwandernde Homo sapiens die Neandertaler in Europa kurzerhand verdrängt hat, ins Wanken. Vielmehr sieht es so aus, als ob Neandertaler und moderne Menschen über viele Jahrtausende hinweg friedlich nebeneinander existierten. Zu den späten Neandertalern zählen die Forscher alle Funde, die jünger als 45.000 Jahre sind. Von besonderem Interesse sind allerdings Funde, die jünger als 35.000 Jahre sind, da aus dieser Zeit auch zahlreiche Überreste von anatomisch modernen Menschen bekannt sind. Bekannte Fundorte von späten Neandertalern sind u.a. Zafarraya in Spanien, Vindija in Kroatien, Saint Césaire, Arcy-Sur-Cure, l'Horus sowie La Quina und Le Moustier in Frankreich.

l'Horus

Die Höhle bei l'Horus in Südfrankreich hat ungefähr 50 menschliche Knochenfragmente zutage gefördert, die auf den letzten Abschnitt der Würm-Eiszeit datiert werden können. Bei den meisten Überresten handelt es sich um Bruchstücke von Kiefern und Zähnen, jedoch sind auch einige Schädelfragmente und postcraniale Knochen gefunden worden. Diese Überreste sind - aufgrund einiger Merkmale - sowohl als Argument für die Theorie, dass sich die Neandertaler zu modernen Menschen entwickelt hätten, als auch gegen diese Theorie aufgeführt worden. Was man eindeutig sagen kann ist nur, dass die Funde mehrere Neandertalermerkmale zeigen, wie etwa die fliehende Stirn. Wegen der Fragmentierung sind die Knochenbruchstücke von l'Horus als Reste einer Hyänenmahlzeit interpretiert worden.

Vindija

Der Fundort Vindija im Norden Kroatiens nimmt eine zentrale Stelle in der Diskussion ein, ob sich Neandertaler und moderne Menschen vermischt haben oder ob der Neandertaler von den Neuankömmlingen in Europa eher verdrängt wurde. Die Funde aus den oberen Schichten der Höhle werden auf 32.000 Jahre datiert, die unteren sind etwa 42.000 Jahre alt. Die Neandertaler-Population von Vindija könnte nach Ansicht einiger Forscher das Ergebnis von Vermischungen mit ankommenden Gruppen des Homo sapiens sein. Zumindest sei ein Einfluss modern-menschlicher Gene nicht auszuschließen, so die Forscher. Die Unterstützer der Vermischungstheorie führen als Beweis u.a. modern-anatomische Merkmale wie etwa ein weniger vorspringendes Gesicht, kleinere Überaugenwülste oder dünnere Schädelknochen an.

Kritiker dieser Theorie geben zu bedenken, dass die Überreste aus Vindija möglicherweise keine erwachsenen Individuen waren oder einfach nur kleiner als normale Neandertaler waren. Die Überreste sind jedoch genau untersucht worden und es scheint sich tatsächlich um voll ausgereifte Individuen zu handeln, mit einer Körpergröße, wie sie typisch für Neandertaler jener Zeit ist. Schließlich stellte im Mai 2010 ein Wissenschaftsteam einen ersten Entwurf des Neandertaler-Genoms vor. Das Material für diese Genanalysen stammte u.a. von drei Frauen aus Vindija - und die Ergebnisse untermauern stark die Vermischungstheorie.

Die jüngste Schicht in der Höhle von Vindija (G1) ist auf ungefähr 32.000 Jahre datiert worden. Die Überreste wurden von verschiedenen Wissenschaftlern sowohl als Neandertaler (mit einigen modern-menschlichen Merkmalen), als auch als Überreste von modernen Menschen (mit keinerlei anatomischen Ähnlichkeiten zu den europäischen Neandertalern), interpretiert. Welche Interpretation nun zutrifft oder nicht, steht in direktem Zusammenhang mit der Tatsache, dass man in dieser Schicht Knochengeräte in Form von Spitzen fand, die zur Werkzeugkultur des Aurignacien zu gehören scheinen. Allgemein wird diese Technologie dem Homo sapiens zugeschrieben, doch wenn es sich bei den Menschen von Vindija tatsächlich um Neandertaler handelt, so muss es entweder zu irgendeiner Form von Technologietransfer gekommen sein, oder die Neandertaler von Vindija haben diese Herstellungstechnik unabhängig von Homo sapiens entwickelt.

Saint-Césaire

In einer Kalksteinhöhle bei Saint-Césaire in der Nähe von Charente-Maritime in Frankreich wurden 1979 die Überreste eines Neandertalers entdeckt, die aus der rechten Hälfte des Schädels, einigen Rippen, einem Schulterblatt, zwei Armknochen, Fragmenten einer Kniescheibe und den beiden Schienbeinen bestehen. Früher wurde der Fund als „der letzte Neandertaler” bezeichnet, der vor ungefähr 36.000 Jahren lebte. Der Fund zeigt definitive Neandertalermerkmale wie etwa eine fliehende Stirn und anderes.

Einige Forscher sehen in Saint-Césaire aber den Beweis für den Übergang vom Neandertaler zum modernen Menschen, als Merkmale, die auf den modernen Menschen hindeuten, werden u.a. ein weniger vorspringendes Gesicht oder kleinere Zähne angeführt. Andere sind der Meinung, dass die Unterschiede zu den Populationen des europäischen Homo sapiens zu groß und der zeitliche Rahmen zu kurz ist, so dass jegliches Abstammungsverhältnis auszuschließen sei.

Arcy-sur-Cure

Die Funde in der Grotte du Renne bei Arcy-sur-Cure aus den Schichten des Châtelperronien in Frankreich sind ungefähr 34.000 Jahre alt. Sie bestehen aus einem isolierten Zahn mit definitiven Neandertalermerkmalen und dem Fragment eines jugendlichen Schläfenbeins, dessen Innenohrmorphologie eher an moderne Menschen als an Neandertaler erinnert. Die Wichtigkeit der Funde von Arcy-sur-Cure besteht darin, dass man den Knochenresten persönliche Gegenstände in Form von Schönheitsartikeln zuordnen kann, wie man sie in dieser Gegend sonst nur von Fundorten der Aurignacien-Kultur des Homo sapiens kennt. Diese Tatsache stellt eine weitere kulturelle Verbindung zwischen den Neandertalern und dem modernen Menschen her.

Literatur

Stringer, C.B., and R. Grün. 1991. "Time for the last Neanderthals." In Nature, vol. 351, pp. 701-702.

Bar-Yosef, O., B. Vandermeersch, B. Arensburg, A. Belfer-Cohen, P. Goldberg, H. Laville, L. Meignen, Y. Rak, J.D. Speth, E. Tchernov, A.M. Tillier, and S. Weiner. 1992. "The Excavations in Kebara Cave, Mt. Carmel." In Current Anthropology, vol. 33, no. 5, pp. 497-550.

Johanson, D., und B. Edgar. 2000, Lucy und ihre Kinder . Spektrum akad. Verlag ISBN: 3-8274-1049-5


Anatomie | Physiologie | Sprache
Anatomie der Sprache
Tonbandaufnahmen aus grauer Vorzeit gibt es leider nicht.
Anatomie
Anatomische Terminologie
Die Lage- und Richtungsbezeichnungen dienen in der Anatomie zur Beschreibung der Position und des Verlaufs einzelner Strukturen.
Anatomie | Fossil | Homo heidelbergensis
Arago XXI - Homo heidelbergensis
Die eindrucksvolle Kalksteinhöhle Arago liegt hoch über dem Fluss Verdouble in den Pyrenäen.
Anatomie
Das menschliche Skelett von hinten
Das menschliche Skelett von hinten - evolution-mensch.
Anatomie
Das menschliche Skelett von vorne
Das menschliche Skelett besteht aus gut 212 Knochen (individuell verschieden; üblich angegebene Zahlen liegen zwischen 206 und 214).
Anatomie | Paläoökologie | Hominine | Aufrechter Gang
Der aufrechte Gang
Der Mensch: Das ist ein intelligentes Wesen mit einem großen Gehirn, das aufrecht geht.
Anatomie | Gehirn
Der menschliche Schädel
Der menschliche Schädel - evolution-mensch.
Anatomie | Fossil | Homo | Australopithecus
Die Fossilien
Als Darwin 1859 seine gewagten Überlegungen zum Ursprung des Menschen veröffentlichte, kannte man noch keine Fossilien, die für einen allmählichen Übergang von einem schimpansenähnlichen Vorfahren zum heutigen Menschen gesprochen hätten.
Anatomie | Paläoökologie | Fossil | Australopithecus
DIK1-1 »Dikika Baby« - Australopithecus afarensis
Das drei Millionen Jahre alte Skelett eines dreijährigen Kindes (ein Mädchen) liefert ein hervorragendes Hilfsmittel, um die körperliche Entwicklung eines menschlichen Vorfahren zu verstehen, der, wie es scheint, zwar aufrecht ging aber noch die Fähigkeit besaß, auf Bäume zu klettern.
Anatomie | Taxonomie | Fossil | Australopithecus
OH5 »Zinjanthropus«, »Nussknacker Mensch« - Australopithecus boisei
OH 5 ist das Typusexemplar der Spezies Australopithecus boisei und wurde 1959 von Mary Leakey entdeckt - genau hundert Jahre nach Darwins „Entstehung der Arten“.
Anatomie | Hominine
Sahelanthropus tchadensis
In der Djurab-Wüste im Tschad in Zentralafrika wurde im Jahr 2001 ein fossiler Schädel und mehrere Unterkiefer und Zähne einer möglicherweise aufrecht gehenden Primatenart entdeckt, deren Alter auf 6 bis 7 Millionen Jahre geschätzt wird.
Anatomie | Taxonomie | Fossil | Homo erectus
Skelett KNM-WT 15000 - »Turkana Boy« - Homo ergaster
Am 22.
Anatomie | Taxonomie | Fossil | Homo erectus
Trinil 2 - »Javamensch« - Homo erectus
Der sogenannte Pekingmensch ist 750.
Fossil | Datierung
Aminosäure Racemisierung
Diese Datierungsmethode beruht auf der langsamen chemischen Umwandlung von linksdrehenden Aminosäuren in lebenden Organismen in ihre rechtsdrehenden Gegenstücke.
Werkzeuge | Paläontologie | Datierung
Die Datierung von Fossilien und Artefakten
Nur wenn man das Alter paläontologischer und archäologischer Funde abschätzen kann, läßt sich für die Evolution ein zeitlicher Ablauf rekonstruieren.
Erdgeschichte | Datierung
Kalium-Argon Datierung
Mit der in den 19-fünfziger Jahren entwickelten Kalium-Argon-Methode kann man Vulkanasche- und Tuffgesteine datieren.
Erdgeschichte | Datierung
Paläomagnetische Polaritätsstratigraphie, Paläomagnetismus
Diese Datierungsmethode erfordert eine vorherige Kalibrierung.
Datierung
Radiocarbon-Datierung
Die Radiokarbon- oder Kohlenstoff-14 Datierung ist vielleicht das bekannteste Verfahren zur absoluten Datierung.
Erdgeschichte | Datierung
Spaltspurdatierung
Die Spaltspurdatierung beruht auf dem spontanen radioaktiven Zerfall (fission) von Uran-238 (238U), wobei eine Spur (track) von Defektlinien in der Nähe des Uran-Atoms entsteht.
Erdgeschichte | Datierung
Thermolumineszenz, optisch angeregte Lumineszenz und Elektronenspin-Resonanz
Die Grundlage dieser Verfahren ist die gleiche: sie messen die Anzahl von Elektronen, die in Defekten in der Gitterstruktur von Kristallen gefangen sind.
Erdgeschichte | Datierung
Uranreihen-Datierung
Es gibt mehrere chemische Elemente, die natürlich vorkommende radioaktive Isotope des Urans sind.
Taxonomie | Hominine | Homo | Australopithecus | Neandertaler | Homo sapiens | Homo erectus | Homo heidelbergensis
hominid oder hominin
Diese Frage sorgt sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Fachwelt oft für Verwirrung.
Fossil | Neandertaler
Shanidar 1 - Homo neanderthalensis
Die Shanidar Höhle ist die älteste prähistorische Stätte im Irak, einem Land, das archäologisch berühmt ist für die kulturellen Errungenschaften, die man in Mesopotamien entdeckte.

Die letzten News

Knochen des Tages
KNM-OG 1176
KNM-OG 1176

Theropithecus oswaldi leakeyi


Elemente: L. CAR (TRAPEZIUM)
Olorgesailie Kenia

23.09.2023
Genetik | Homo sapiens | Sprache
Studie zur genetischen Geschichte Afrikas
Mithilfe von Erbgutanalysen moderner Populationen ist es einem internationalen Forschungsteam gelungen, die komplexen Abstammungsverhältnisse verschiedener in der angolanischen Namib-Wüste ansässiger Bevölkerungsgruppen besser zu erforschen.
18.09.2023
Gehirn | Sprache
Evolution der sprach-relevanten Hirnstrukturen aufgedeckt
Sprache ist ein Aspekt, der uns zu Menschen macht.
17.08.2023
Genetik | Homo sapiens | Stammbaum
Neues vom Mann aus dem Eis: dunkle Haut, Glatze, anatolische Vorfahren
Ötzis Genom wurde 2012 erstmals sequenziert - Die seitdem erzielten technologischen Fortschritte ermöglichten einem Forschungsteam nun eine exaktere Rekonstruktion seines Genoms.
15.08.2023
Anatomie | Genetik
Unterschiedliche evolutionäre Kräfte formen das menschliche Skelett
Das Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen untersucht Skelettmerkmale als möglichen Ersatz für DNA-Analysen.
02.08.2023
Kunst
Figurine zeigt eine neue Gestalt
Mehr als 20 Jahre lang galt das erste aus der Welterbe-Höhle Hohle Fels geborgene Elfenbeinkunstwerk als Pferd – bis Archäologen nun einen neuerlichen Fund gemacht haben.
01.08.2023
Nach der Eiszeit | Homo sapiens | Stammbaum
Stammbäume aus Europas Jungsteinzeit
Die Bestattungen eines jungsteinzeitlichen Gräberfeldes, Gurgy ‘les Noisats’ im heutigen Frankreich, offenbarten unerwartet große Familienstammbäume.
01.08.2023
Erdgeschichte | Fossil
Älteste in ihrer Form erhaltene Mikroorganismen gefunden
Weltweit konnten Forschende erstmals die Form von Mikroorganismen aus der Frühzeit der Evolution vor 1,5 Milliarden Jahren studieren.
31.07.2023
Eiszeit | Paläoökologie
Tiere suchten schon vor mehr als 30.000 Jahren die Nähe zu Menschen
Wilde Tiere gingen Beziehungen zu Menschen ein, lange bevor diese im Neolithikum vor rund 10.
29.07.2023
Sprache
Zum Ursprung indigener Sprachen in Südamerika
Computerlinguist der Universität Tübingen untersucht die Verwandtschaftsbeziehungen der Tupí-Guaraní-Sprachfamilie mit molekularbiologischen Methoden.
28.07.2023
Kultur | Neandertaler
Neues zur Herstellung von Birkenpech-Klebstoff durch Neandertaler
Birkenpech ist eines der ältesten von frühen Menschen künstlich hergestellten Materialien - Die frühesten Belege für Birkenpech werden mit dem Neandertaler in Verbindung gebracht.