Die Paläoanthropologie als wissenschaftliche Disziplin nahm an einem Tag im August des Jahres 1856 ihren Anfang. An diesem Tag wurde das Exemplar, das die Bezeichnung Neanderthal 1 trägt, in der Feldhofer Grotte im Neandertal'>Neandertal bei Düsseldorf entdeckt. Der Fund bestand aus einem Schädeldach, zwei Oberschenkelknochen, drei rechten und zwei linken Armknochen, einem Teil des linken Darmbeins und Fragmenten von Schulterblatt und Rippen. Die Fossilien wurden von Steinbrucharbeitern freigelegt und beiseite geschafft, um sie später dem örtlichen Lehrer Johann Carl Fuhlrott (1803-1877) zu zeigen, der neben seiner lehramtlichen Tätigkeit ein begeisterter Naturkundler war. Fuhlrott vermutete sofort, dass diese einmaligen Fundstücke Relikte aus der menschlichen Vergangenheit waren und überließ die wissenschaftliche Beschreibung des Materials dem Anatomen Hermann Schaaffhausen (1816-1893). Gemeinsam veröffentlichten sie den Fund im Jahr 1857, zwei Jahre vor Darwins "On the Origin of Species".

Geschichte

Während dieser Fund den Anfang der Paläoanthropologie markierte, war er doch von Beginn an Gegenstand einer hitzigen Debatte, die heute genau so leidenschaftlich geführt wird wie vor 100 Jahren. Der deutsche Wissenschaftler Rudolf Virchow (1829-1902) behauptete, dass das Skelett einem kranken Kosakenkavalleristen gehörte, dessen große Überaugenwülste von einem ständig vor Schmerz verzerrten Gesicht herrühren.

Auch als der Neandertaler schon lange als Steinzeitmensch anerkannt war, wurde über die Beschreibung des Neandertalers heftig gestritten. Marcelline Boule (1861-1942) und Henri Vallois (1889-1981) waren die prominentesten Wissenschaftler, die der Meinung waren, dass der Neandertaler keinen Platz in der Ahnenreihe des modernen Menschen hätte. Vielmehr unterstützten sie die Meinung, der Neandertaler sei mehr Affe als Mensch gewesen, von niedriger Intelligenz und schlurfendem Schritt. Diese Wahrnehmung des Neandertalers basierte auf beider Fehldeutung des Fundes aus La Chapelle-aux-Saints, dessen Merkmale man als typisch für die gesamte Spezies annahm. Dabei war der "alte Mann" aus La Chapelle-aux-Saints Opfer schmerzhafter Arthritis im ganzen Körper, was Veränderungen an seinem Skelett hervorrief.

Die Überreste aus der Feldhofer Grotte waren nicht die ersten Fossilien eines Neandertalers, jedoch die ersten die man einer anderen, separaten Spezies Mensch zuschrieb. Das 1829 entdeckte Engis-Kind aus Belgien war der erste Neandertaler, der zweite folgte 1848 aus der Forbes Quarry auf Gibraltar. Der Speziesname Homo neanderthalensis geht auf den Geologen William King zurück, der ihn erstmals 1863 bei einer Versammlung der British Association und 1864 in einer Druckschrift des Quarterly Journal of Science erwähnte. Der Neandertaler steht allen anderen menschlichen Spezies voran im Fokus der akademischen Welt.

Heute besteht kaum noch Zweifel daran, dass die Vorfahren der Neandertaler jene frühen Menschen im mittleren Pleistozän Europas waren, die man heute unter dem Namen Homo heidelbergensis oder Homo antecessor kennt. Lange Zeit wurde angenommen, dass neben diesen Vorfahren bereits als Prae-sapiens-Formen bezeichnete Menschenarten existierten, die die Vorfahren des modernen Menschen in Europa sein sollten. Durch neue Funde aus Afrika und deren Datierungen steht jedoch heute fest, dass in Afrika die Entwicklung zum modernen Homo sapiens bereits einsetzte, als in Europa der Neandertaler erscheint.

Merkmale des Neandertalers

Die direkten Vorfahren der Neandertaler, die Ante-Neandertaler (z.B. der zu Homo heidelbergensis gerechnete Steinheimer Mensch), die vor ca. 400.000 Jahren zum ersten Mal auftraten, wirken anatomisch wie eine Mischung aus Neandertalern und modernen Menschen. Sie waren groß und der Größenunterschied zwischen Männern und Frauen war deutlicher ausgeprägter als heute. Möglicherweise handelt es sich bei dem Schädel aus Steinheim um den einer Frau und bei dem aus Petralona in Griechenland um den eines Mannes. Je jünger die Funde werden, desto stärker nehmen die Neandertaler-Merkmale im Bau des Schädels und des Skeletts zu, bis sich auf dem Weg über die frühen Neandertaler vor ca. 90.000 Jahren die klassischen Neandertaler-Merkmale entwickelt hatten.

Der Hirnschädel des Neandertalers ist lang und flach und es fallen besonders die starken Überaugenwülste und das nach vorne springende Mittelgesicht auf. Ein deutlicher Unterschied zum Homo sapiens findet sich im Unterkiefer. Wahrend der moderne Mensch ein ausgeprägtes Kinn hat, fehlt dies beim Neandertaler, es flieht nach hinten weg. Typisch für den Neandertaler ist auch eine Lücke zwischen dem letzten Backenzahn und dem aufsteigenden Unterkieferast. Neandertaler sind sehr robust und muskulös gebaut: Die Gelenke und Ansatzstellen der Muskeln sind kräftig, die Oberschenkel besitzen dicke Wände. Diese Merkmale zeigen sich schon bei Kindern, deshalb sind die ausgeprägte Muskulatur und der robuste Körperbau ein Merkmal der Spezies Homo neanderthalensis, da sie genetisch bedingt sind und nicht etwa im Laufe eines harten Lebens antrainiert wurden. Der Körperbau des Neandertalers wirkt gedrungen, da die Oberschenkel und Oberarme relativ lang, die Beine hingegen kürzer als beim modernen Menschen sind. Die Männer der Neandertaler waren im Schnitt 1,67 m groß, Frauen waren mit 1,60 m etwas kleiner.

Der Merkmalsbereich von Neandertalern ist jedoch sehr breit gefächert und man kann die Funde in drei Gruppen einteilen: die frühen Neandertaler (vor 250.000 bis 130.000 Jahren), die Neandertaler, die während des Überganges zur Oberen Altsteinzeit (vor ungefähr 130.000 bis 45.000 Jahren) existierten, und die späten Neandertaler (nach 45.000 Jahren).

Literatur

Stringer, C.B., and R. Grün. 1991. "Time for the last Neanderthals." In Nature, vol. 351, pp. 701-702.

Bar-Yosef, O., B. Vandermeersch, B. Arensburg, A. Belfer-Cohen, P. Goldberg, H. Laville, L. Meignen, Y. Rak, J.D. Speth, E. Tchernov, A.M. Tillier, and S. Weiner. 1992. "The Excavations in Kebara Cave, Mt. Carmel." In Current Anthropology, vol. 33, no. 5, pp. 497-550.

Johanson, D., und B. Edgar. 2000, Lucy und ihre Kinder. Spektrum akad. Verlag ISBN: 3-8274-1049-5


Mehr zu den Themen

Taxonomie | Stammbaum | Darwin
Charles Darwin und die Abstammung des Menschen
Für seine lange Reise an Bord der »Beagle«, die ihn in fünf Jahren um die Welt führen sollte, packte sich der junge Charles Darwin auch die eben erschienenen »Prinzipien der Geologie von Charles Lyell ein.
Paläoanthropologie | Taxonomie
Die Evolution des Menschen
Viele Menschen sind von der Vorstellung fasziniert, dass es einmal Wesen auf unserer Erde gegeben hat, die zwar aufrecht gingen, aber den Kopf eines Menschenaffen auf den Schultern trugen.
Taxonomie | Aufrechter Gang | Australopithecus
Die Gattung Australopithecus
Australopithecus ist der Gattungsname von mehreren aufrechtgehenden Menschenaffen, die ab dem späten Miozän in Afrika verbreitet waren.
Taxonomie | Hominine | Homo | Australopithecus | Neandertaler | Homo sapiens | Homo erectus | Homo heidelbergensis
hominid oder hominin
Diese Frage sorgt sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Fachwelt oft für Verwirrung.
Taxonomie | Homo erectus
Homo erectus
Als die Paläoanthropologie noch eine junge Wissenschaft war, kannte man nur zwei verschiedene Spezies von frühen Menschen: den Neandertaler und den Homo erectus.
Taxonomie | Homo
Homo ergaster
Der Art Homo ergaster - was soviel wie "der Handwerker" bedeutet - werden von vielen Forschern die frühen afrikanischen Fossilien des Homo erectus mit einem Alter von 1,8 bis 1,5 Millionen Jahren zugeordnet.
Taxonomie | Homo
Homo ergaster (H. georgicus)
Die fossilen Überreste dieses Frühmenschen wurden seit 1991 unter Leitung von David Lordkipanidse bei Dmanisi (oder Dmanissi) in Georgien ausgegraben.
Taxonomie | Feuer | Homo heidelbergensis
Homo heidelbergensis
Der allmähliche Übergang vom Homo erectus über Homo heidelbergensis zum Neandertaler ist durch ungewöhnlich zahlreiche Fossilien sehr gut belegt.
Taxonomie | Homo
Homo naledi
Im Oktober 2013 haben Wissenschaftler aus Südafrika eine Entdeckung angekündigt, eine Fundgrube fossiler Menschen in einem Höhlensystem, das nun als Rising-Star-Höhle bekannt ist.
Taxonomie | Aufrechter Gang | Homo
Homo rudolfensis
Die Benennung von Homo rudolfensis als eigenständige Spezies ist in der Fachwelt ein viel diskutiertes Thema.
Taxonomie | Fossil | Hominine | Homo | Australopithecus
Kenyanthropus platyops - KNM-WT 40000
Justus Erus und Meave Leakey fanden 1999 in Lomekwi an der Westseite des Turkanasees in Kenia diese außergewöhnlichen Fossilien.
Taxonomie | Fossil | Homo
KNM-ER 1813 - Homo habilis
Von einem früheren Fund (KNM-ER 1470) bei Koobi Fora wusste man, dass dort vor zwei Millionen Jahren eine Art von Homo mit relativ großem Gehirn, großem Gesicht und großen Zähnen gelebt hatte.
Taxonomie | Fossil | Aufrechter Gang | Australopithecus
Lucy - AL 288-1 - Australopithecus afarensis
Lucy war ein kleiner weiblicher Australopithecus afarensis, der vor mehr als drei Millionen Jahren an einem prähistorischen See bei Hadar im heutigen Äthiopien lebte.
Anatomie | Taxonomie | Fossil | Australopithecus
OH5 »Zinjanthropus«, »Nussknacker Mensch« - Australopithecus boisei
OH 5 ist das Typusexemplar der Spezies Australopithecus boisei und wurde 1959 von Mary Leakey entdeckt - genau hundert Jahre nach Darwins „Entstehung der Arten“.
Taxonomie | Fossil | Hominine
Sahelanthropus tchadensis - TM 266-01-060-1 »Toumaï«
Das bislang älteste bekannte Mitglied der Menschenfamilie entdeckte ein Forscherteam aus Frankreich und dem Tschad im Juli 2001 in der Sahelzone in Zentralafrika.
Taxonomie | Fossil | Australopithecus
SK 6 - Typusexemplar Australopithecus robustus (Paranthropus crassidens)
Eine wichtige Entdeckung von Robert Broom war SK 6, ein Teil eines Unterkiefers sowie einige Zähne, die er bei Swartkrans, Südafrika, entdeckte.
Anatomie | Taxonomie | Fossil | Homo erectus
Skelett KNM-WT 15000 - »Turkana Boy« - Homo ergaster
Am 22.
Anatomie | Taxonomie | Fossil | Homo erectus
Trinil 2 - »Javamensch« - Homo erectus
Der sogenannte Pekingmensch ist 750.
Taxonomie | Fossil | Homo erectus
Zhoukoudian - »Der Pekingmensch« - Homo erectus
Der sogenannte Pekingmensch ist 750.
Taxonomie | Hominine | Homo | Australopithecus | Neandertaler | Homo sapiens | Homo erectus | Homo heidelbergensis
hominid oder hominin
Diese Frage sorgt sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Fachwelt oft für Verwirrung.
Fossil | Neandertaler
Shanidar 1 - Homo neanderthalensis
Die Shanidar Höhle ist die älteste prähistorische Stätte im Irak, einem Land, das archäologisch berühmt ist für die kulturellen Errungenschaften, die man in Mesopotamien entdeckte.

Die letzten News

Knochen des Tages
YV F .24
YV F .24

Lufengpithecus keiyuanensis


Elemente: L. LM3
Yuanmou, China

23.09.2023
Genetik | Homo sapiens | Sprache
Studie zur genetischen Geschichte Afrikas
Mithilfe von Erbgutanalysen moderner Populationen ist es einem internationalen Forschungsteam gelungen, die komplexen Abstammungsverhältnisse verschiedener in der angolanischen Namib-Wüste ansässiger Bevölkerungsgruppen besser zu erforschen.
18.09.2023
Gehirn | Sprache
Evolution der sprach-relevanten Hirnstrukturen aufgedeckt
Sprache ist ein Aspekt, der uns zu Menschen macht.
17.08.2023
Genetik | Homo sapiens | Stammbaum
Neues vom Mann aus dem Eis: dunkle Haut, Glatze, anatolische Vorfahren
Ötzis Genom wurde 2012 erstmals sequenziert - Die seitdem erzielten technologischen Fortschritte ermöglichten einem Forschungsteam nun eine exaktere Rekonstruktion seines Genoms.
15.08.2023
Anatomie | Genetik
Unterschiedliche evolutionäre Kräfte formen das menschliche Skelett
Das Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen untersucht Skelettmerkmale als möglichen Ersatz für DNA-Analysen.
02.08.2023
Kunst
Figurine zeigt eine neue Gestalt
Mehr als 20 Jahre lang galt das erste aus der Welterbe-Höhle Hohle Fels geborgene Elfenbeinkunstwerk als Pferd – bis Archäologen nun einen neuerlichen Fund gemacht haben.
01.08.2023
Nach der Eiszeit | Homo sapiens | Stammbaum
Stammbäume aus Europas Jungsteinzeit
Die Bestattungen eines jungsteinzeitlichen Gräberfeldes, Gurgy ‘les Noisats’ im heutigen Frankreich, offenbarten unerwartet große Familienstammbäume.
01.08.2023
Erdgeschichte | Fossil
Älteste in ihrer Form erhaltene Mikroorganismen gefunden
Weltweit konnten Forschende erstmals die Form von Mikroorganismen aus der Frühzeit der Evolution vor 1,5 Milliarden Jahren studieren.
31.07.2023
Eiszeit | Paläoökologie
Tiere suchten schon vor mehr als 30.000 Jahren die Nähe zu Menschen
Wilde Tiere gingen Beziehungen zu Menschen ein, lange bevor diese im Neolithikum vor rund 10.
29.07.2023
Sprache
Zum Ursprung indigener Sprachen in Südamerika
Computerlinguist der Universität Tübingen untersucht die Verwandtschaftsbeziehungen der Tupí-Guaraní-Sprachfamilie mit molekularbiologischen Methoden.
28.07.2023
Kultur | Neandertaler
Neues zur Herstellung von Birkenpech-Klebstoff durch Neandertaler
Birkenpech ist eines der ältesten von frühen Menschen künstlich hergestellten Materialien - Die frühesten Belege für Birkenpech werden mit dem Neandertaler in Verbindung gebracht.