FUNDFUNDORTALTERENTDECKERDATUM
adulte CalotteFeldhofer Grotte, Neandertal, Deutschlandca. 40.000 - 50.000 JahreSteinbrucharbeiterAugust 1856
VERÖFFENTLICHUNG
Fuhlrott, C. von, 1859. Menschliche Überreste aus einer Felsengrotte des Düsselthals.Verh. natur,. Ver. der preuss. Rheinl. 16: 131-153

Der Neandertaler wurde von Arbeitern in einem Kalksteinbruch gefunden, als sie eine Höhle in der engen Schlucht des Neandertales bei Düsseldorf ausräumten. Die Höhle war relativ groß, aber nur schwer zu erreichen. Der etwa ein Meter hohe Eingang lag oberhalb eines zwanzig Meter großen Steilabhangs. Die Knochen wurden in einer anderthalb Meter tiefen Schlammschicht auf dem Höhlenboden gefunden. Es ist wahrscheinlich, dass es sich um ein vollständiges Skelett handelte, aber man erkannte nicht sofort, dass es Menschenknochen waren, und sie landeten deshalb zunächst auf der Abraumhalde.

Einige Wochen später hörte Dr. Johann Carl Fuhlrott, ein Lehrer aus Elberfeld, von den Knochen, doch da konnten bereits nur noch die Schädeldecke und einige Gliederknochen wiedergefunden werden. Am Fundort wurde keinerlei fossile Fauna entdeckt, und da es sich um eine Höhle handelte, war es unmöglich, exakte stratigraphische Lagenbestimmungen festzulegen. Somit konnte man den Neandertaler nicht auf der geologischen Skala des relativen Alters einordnen, die Beweiskraft für das hohe Alter des Fossils lag einzig in seiner physischen Erscheinung.

Dr. Fuhlrott zeigte die Stücke sofort Professor Schaaffhausen, einem Anatomen, der sie am 4. Februar 1857 bei einer Versammlung der Niederrheinischen Medizinischen und Naturgeschichtlichen Gesellschaft in Bonn der wissenschaftlichen Welt präsentierte, fast drei Jahre vor der Veröffentlichung von Darwins Hauptwerk. Schaaffhausen war davon überzeugt, dass die Fundstücke sowohl sehr alt als auch menschlich waren, stellte aber fest, dass die Gliedmaßen ausgesprochen dick waren und außergewöhnlich muskulöse Anlagen zeigten, ein Hinweis auf die ausgeprägte Kraft des Individuums.

Die merkwürdige Kopfform hielt er für eine natürliche Ausprägung, sie entsprach aber keineswegs der irgendeiner modernen Rasse, selbst der wildesten nicht. Die vorstehenden Überaugenwülste - »charakteristisch für die Gesichtsgestaltung der Menschenaffen« - müssten typisch für die Rasse der Neandertaler sein, meinte Schaaffhausen, die gäben ihnen einen wilden und brutalen Ausdruck. Er folgerte, dass die Fossilien zu einer der wilden Rassen der nordwesteuropäischen Ureinwohnern gehören müssten, einer barbarischen Horde, deren »Miene und blitzende Augen« die römische Armee in Angst und Schrecken versetzt hätten.

Einige Zuhörer stellten Schaaffhausens Ansichten in Frage (sie zweifelten an, dass es sich um menschliche Knochen handelte), aber die Kontroverse nahm erst Formen an, als ein Vortrag im April 1861 im Natural History Review erschien. George Busk (1807 - 86), der als Anatomieprofessor am Royal College of Surgeons lehrte, hatte den Artikel ins Englische übersetzt und eigene Anmerkungen hinzugefügt, wobei er besonders auf die Ähnlichkeit des Neandertalerschädels mit dem eines Gorillas oder Schimpansen hinwies. Der gerade geadelte Geologe Sir Charles Lyell besorgte sich daraufhin einen Gipsabdruck und Fotografien des Originals. Er ließ sie von dem Biologen Thomas Huxley (1825 - 95) untersuchen und beschreiben. Kurz darauf war der Neandertaler zum Kernpunkt einer Debatte geworden, die sich durch Heftigkeit, Phantasie und unfreiwilligen Humor auszeichnete.

Im großen und ganzen gab es zwei Meinungen. Entweder repräsentierten die physischen Besonderheiten des Neandertalers ein frühes Stadium in der Entwicklungsgeschichte, das den Menschen mit einem affenähnlichen Vorfahren verband, oder sie waren pathologische Verunstaltungen eines modernen Menschen, die dann allerdings so ausgeprägt waren, wie sie die Medizin noch nicht gesehen hatte. Die Altertümlichkeit konnte weder bestätigt noch widerlegt werden, die Beweiskraft lag also einzig in den Fossilien selbst. Damit war Interpretationen der Weg geebnet, die ganz entscheidend von den jeweiligen Vorerwartungen und Einstellungen zur Evolutionstheorie geprägt waren. Die Befürworter glaubten an das hohe Alter der Fossilien und diskutierten ihre »barbarischen« und affenähnlichen Merkmale entwicklungsgeschichtlich. Die Gegner andererseits glaubten, die Überreste gehörten zu einem modernen Menschen, und suchten nach modernen medizinischen Erklärungen für die Verunstaltungen.

Für die Gegner der Evolutionstheorie blieben Rachitis und Schwachsinn lange Zeit die besten Erklärungen für die physischen Besonderheiten des Neandertalers. Am entscheidendsten wurde diese Theorie von F. Mayer, einem Bonner Anatomieprofessor, vertreten. Mayer hatte den Vorteil, das Originalfossil untersucht zu haben. Er stützte sich nicht auf die vorstehenden Überaugenwülste, sondern auf das Fehlen der pfeilförmigen Knochenleiste, die beim Affen am oberen Schädel entlangläuft und an der die Kaumuskulatur befestigt ist. »Man zeige mir einen fossilen Menschenschädel mit dieser Knochenleiste, und ich werde die Abstammung des Menschen von einem affenähnlichen Vorfahren anerkennen«, sagte er.

In den Augen Mayers war der Neandertaler entartet und hatte als Kind Rachitis gehabt, eine weitverbreitete Krankheit, wie er betonte, unter Leuten, die in feuchten Häusern lebten und sich von Kartoffeln ernährten. Somit wären die stark gebogenen Beine des Neandertalers erklärbar. Aber auch Leute, die ihr Leben lang im Sattel säßen, so Mayer, litten häufig unter O-Beinen. Dazu bot er folgende Erklärung an: Eine Kosakenarmee unter General Tcheritcheff habe vor ihrer Rheinüberquerung am 14. Januar 1814 in der Nähe des Fundortes gelagert. Die Knochen in der Höhle müssten einem kranken Kosakendeserteur gehört haben, der sich dort versteckte und dann starb.

Thomas Huxley, der glühendste Verfechter der Evolutionstheorie verwarf Mayers Thesen als eine Abhandlung »voll von einer Unzahl kleiner aber schwerfälliger Scherze, die gegen Herrn Darwin und seine Lehre gerichtet sind...«. Darüber hinaus bemerkte er, dass es Mayer nicht gelungen war, zu erklären, wie ein Sterbender den zwanzig Meter hohen Steilabhang bewältigen konnte und sich nach seinem Tode selbst eingraben konnte. Huxley wunderte sich auch darüber, dass der Mann sich seiner Kleidung und Ausrüstung entledigte, bevor er dieses Kunststückchen vollbrachte.

Auf einem eher ernsthaften Niveau hatte Huxley inzwischen die Thesen der Evolutionstheoretiker in drei 1863 unter dem Titel Man's Place in Nature zusammen veröffentlichten Essays präzise dargestellt. Er beschrieb die Naturgeschichte der Affen, stellte den Menschen in seiner Beziehung zu den niederen Tieren dar und präsentierte die erste sorgfältige und detaillierte vergleichende Beschreibung der Neandertalfossilien. Huxley folgerte, dass der Schädel, obwohl unter den damals bekannten der affenähnlichste, kein Lebewesen repräsentierte, das direkt zwischen Affe und Mensch stand; es zeige höchsten einen Artenrückschlag vom modernen menschlichen Schädel zu dem eines affenähnlichen Vorfahren. Der entscheidende Faktor, so Huxley, sei die Gehirngröße. Die Schädelkapazität lag im Bereich des modernen Menschenschädels und war doppelt so groß wie die des größten Affenschädels. Mit diesen Bemerkungen setzte Huxley ganz nebenbei die Gehirngröße als Definitionskriterium für die Gattung Homo fest.

Die Bemerkungen über die Gehirngröße des Neandertalers warf die interessante Frage nach seinen geistigen Fähigkeiten auf. Konnte eine dermaßen affenähnliche Kreatur überhaupt wie ein Mensch denken? Die Gegner der Evolutionstheorie sagten natürlich nein. Der Neandertaler war in ihren Augen ein Idiot; und selbst einige Evolutionstheoretiker wollten ihm keine geistigen Fähigkeiten zuschreiben. William King, der Geologieprofessor am Queens College Galway war, glaubte zum Beispiel, der Neandertaler wäre in der Nähe der "Unbedarftheit" anzusiedeln, mit "Gedanken und Begierden ... die nie über das Niveau eines Wilden hinausgingen". Tatsächlich war King so sehr von den geistigen Schwächen des Neandertalers überzeugt, dass er seinen Ausschluss von der menschlichen Art (Homo sapiens) vorschlug. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er nicht einmal zur Gattung Homo gehört, King gab aber zu, dass die Reklassifizierung angesichts fehlender Gesichtsknochen und der Schädelbasis "Deutlich die Grenzen induktiver Argumentation überschreiten würde". King schlug deshalb eine neue Art vor: Homo neanderthalensis. Dies war eine entscheidende Entwicklung, denn sie beinhaltete die Möglichkeit, die menschlichen Fossilien mit Hilfe formaler zoologischer Begriffe einzuordnen.

Angesichts der Lebhaftigkeit der Neandertalerdebatte war zu erwarten, dass über kurz oder lang neues Beweismaterial für die eine oder andere Seite gefunden werden würde. Ein paar Wochen nach Kings Namensgebung tauchte ein Schädel auf, der, obwohl er nicht ganz vollständig war, alles das hatte, was dem Neandertaler fehlte - Gesichtspartie, Unterkiefer und ein fast vollständiges Gebiss.

Darüber hinaus war er dem Neandertaler erstaunlich ähnlich, besonders was die Überaugenwülste angeht. Der neue Schädel war in Gibraltar beim Ausbau von Befestigungsanlagen bereits 1848 gefunden aber nicht weiter beachtet worden und war genau das, was King brauchte, um seine Argumentation zu vervollständigen. Es gelang ihm allerdings nicht, durch diesen Fund den Neandertaler aus der Gattung Homo zu verbannen. Im Gegenteil, der neue Schädel könnte ihn sehr wohl davon überzeugt haben, dass beide Exemplare keiner besonderen Arteneinstufung bedurften, denn seine generelle Erscheinung entsprach Huxleys Beschreibung.

So war es der Geologieprofessor William King, der den Neandertalerfossilien die Identität verlieh, die sie heute für uns besitzen.


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