Gothiscandza

Grün = historische Region Götaland
Rosa = Gotland
Rot = vereinfachter Verlauf der Wielbark-Kultur

Als Gothiscandza (Nom. Sg. zu deutsch „das Scandza der Goten“ oder „das gotische Scandza“)[1] wird der Ort im Gebiet der Weichselmündung bezeichnet, an dem die Goten gemäß der von ihnen überlieferten mythischen Herkunftserzählung, aus ihrer skandinavischen Heimat kommend, unter dem König Berig an der Ostseeküste anlandeten. Der Name ist der Getica des Jordanes (Get. 4, 25; 17, 94) aus dem sechsten Jahrhundert entnommen. In der Forschung wird der Name als eine gelehrte Konstruktion des Cassiodor gesehen, dessen verschollene Geschichte der Goten als Vorlage für Jordanes diente.

Lokalisierung

Jordanes schildert die Herkunft der Goten in mythischer Vorzeit, indem Berig mit drei Boten von Scandza aufbricht und an der Gothiscandza anlandete und in der Folge kriegerisch gegen die dort ansässigen Ulmerugier vorging, um Siedlungsraum zu gewinnen.[2] Aus dieser Angabe wurde in der Forschung versucht, verschiedene Orte und Landschaften an der heutigen polnischen Ostseeküste zu fixieren (Pommern bis Danziger Bucht). In Verbindung mit der regionalen eisenzeitlichen Kulturen (Wielbark-Kultur) wird das Gebiet um das Weichseldelta als die mögliche Gothiscandza gewertet. Aus der Annahme heraus, dass der Begriff einen Ortsnamen bezeichnen könnte, wurde versucht, den Namen der Stadt Danzig davon abzuleiten, beziehungsweise eine lautliche Kontraktion zu belegen.[3]

Name

Bei der Gothiscandza handelt es sich begrifflich um eine Hybridbildung Gothi-Scandza als Gegensatz der eigentlichen Scandza als das nun „Scandza der Goten“ aus den Teilen Gothi und Scandia deren Schöpfer, wenn nicht Jordanes selbst, vermutlich Cassiodor war. Scandza ist die spätlateinische Lautung von Scandia einer Verkürzung von Ska(n)dinavia aus urnordisch *Skaðin-aujō.[4] Gothi erscheint in den Quellen seit dem dritten Jahrhundert,[5] daher ist die Form nach Hermann Reichert verdächtig, da für eine authentische frühe Überlieferung ein u-Stamm vorliegen müsste analog zur vergleichbaren Form des Toponyms Gutþiuda („Gotenvolk“).

In der älteren Forschung wurde versucht den Namen aus dem Gotischen zu deuten.[6] Theodor von Grienberger konstruiert zunächst ein starkes Femininum *Gutisk-andi als „gotische Küste“, dann (später) als Dativ Lokativ *Gutisk-andeis aus gotisch andeis = „Ende“ mit Vergleich zu altisländisch endir „Ende, Rand“.[7] Rudolf Much stimmte Grienberger im Wesentlichen zu, nahm jedoch entgegengesetzt ein schwaches Maskulinum an und konstruierte *Gutisk-andja- ebenfalls mit Bezug zu altisländisch endi(r) und verglich sein Konstrukt mit den friesischen Landschaftsnamen Nord-endi und den langobardischen Beleg Ant-aib mit den Bedeutungen von einem „Grenz- oder Ufergau“.[8] Norbert Wagner wendet gegen beide Ansätze ein, dass „Komposita mit einem Adjektiv auf -isk- im Gotischen nicht belegt sind“. Wagner verweist ferner dahingehend auf Karl Müllenhoff hin, der bereits den Namen als mutmaßliche gelehrte Schöpfung des Cassiodor wertete. Müllenhoff vermutete des Weiteren, dass dieser einen bei Ptolemaios (Geographike Hyphegesis), vorgefundenen Namen nach römischer Denkart kombinierte und aufbereitete.[9]

Der Name beruht letztlich auf der unzureichenden Kenntnis der mediterranen Historiographen von der gotischen Sprache und ist geprägt durch Vorstellungen – wie aus der eingehenden Getica-Stelle (4, 25) deutlich wird –, von der skandinavischen Herkunft der Goten und anderer germanischer Gentes als Vagina nationum (vgl. Ethnogenese).[10]

Literatur

  • Ottar Grønvik: Über die Herkunft der Krimgoten und der Goten der Völkerwanderungszeit. Eine sprachlich-kritische Beurteilung der Gotenfrage. In: John Ole Askedal, Harald Bjorvand (Hrsg.): Drei Studien zum Germanischen in alter und neuer Zeit. John Benjamins Publishing Company, Amsterdam/Philadelphia 2012, ISBN 978-87-7838-061-6, S. 69–94; hier S. 87–88 (Google-Buchsuche).
  • Winfred P. Lehmann: A Gothic Etymological Dictionary. Brill, Leiden/Boston 1986, ISBN 90-04-08176-3, S. 158, 163–165.
  • Hermann Reichert: Lexikon der altgermanischen Namen. Bände I, II. Verlag der ÖAW, Wien 1987, 1990, S. 388 (I), 531 (II).
  • Hermann Reichert: Gothiscandza. In: Heinrich Beck, Heiko Steuer, Dieter Timpe (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 12. de Gruyter, Berlin/New York 1998, ISBN 3-11-016227-X, S. 443–444 (kostenpflichtig Germanische Altertumskunde Online bei de Gruyter).
  • Ludwig Rübekeil: Suebica – Völkernamen und Ethnos. (= Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft 68). Institut für Sprachwissenschaft, Innsbruck 1992. ISBN 3-85124-623-3, S. 93f., 138f., 142–143.
  • Corinna Scheungraber, Friedrich E. Grünzweig: Die altgermanischen Toponyme sowie ungermanische Toponyme Germaniens. Ein Handbuch zu ihrer Etymologie. (= Philologica Germanica 34). Fassbaender, Wien 2014, ISBN 978-3-902575-62-3, S. 178–179.
  • Norbert Wagner: Getica. Untersuchungen zum Leben des Jordanes und zur frühen Geschichte der Goten. de Gruyter, Berlin 1967, S. 209–210 (kostenpflichtig bei de Gruyter Online).
  • Herwig Wolfram: Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie. 4. Auflage C. H. Beck, München 2001, S. 47ff.

Anmerkungen

  1. Lesarten der Handschriften der Getica: Für die Stelle 4, 25: gothiscanza in O, gothiscantia in B, gothizanza in L. Für 17, 94, 6 : gothiscandzam in A, gothes andza in P, gothiscandzae in X, Y, Z.
  2. Jord. Getica 4, 25 (Memento des Originals vom 13. Februar 2008 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.thelatinlibrary.com
  3. Heinrich Tiefenbach: Danzig. In: Heinrich Beck, Herbert Jankuhn, Kurt Ranke, Reinhard Wenskus (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Band 5. de Gruyter, Berlin/New York 1984, ISBN 3-11-009635-8, S. 253–254 (kostenpflichtig Germanische Altertumskunde Online bei de Gruyter).
  4. Ottar Grønvik: Über die Herkunft der Krimgoten und der Goten der Völkerwanderungszeit. S. 87.
  5. Hermann Reichert: Lexikon der altgermanischen Namen. Band I, Wien 1987, S. 363ff.
  6. Friedrich E. Grünzweig: Gothiscandz. In: Corinna Scheungraber, Ders.: Die altgermanischen Toponyme sowie ungermanische Toponyme Germaniens. Wien 2014, S. 179.
  7. Theodor Grienberger: Ermanariks Völker. In: ZfdA 39 (1895), S. 154–184, hier S. 173 Anmerkung 1. Ders.: Untersuchungen zur gotischen Wortkunde. Wien 1900, S. 8.
  8. Rudolf Much: Gothiscandza. In: Johannes Hoops (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Band 2, Strassburg 1915, S. 306.
  9. Karl Müllenhoff: Deutsche Altertumskunde. Band 2, Berlin 1870–1900, S. 396.
  10. Ludwig Rübekeil: Scandinavia in the Light of Ancient Tradition. In: Oskar Bandle (Hrsg. et al.): The Nordic Languages Bd. 1 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 22,1). de Gruyter, Berlin/New York 2002, ISBN 3-11-014876-5, S. 594–604, hier: 600ff.

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