Die Thüringer (lat. Thuringi, T(h)ueringi oder Thoringi) waren ein westgermanischer Stamm, auf den das spätere Thüringen zurückgeht.
Bezeichnung und Entstehung
Für die Etymologie des Namens „Thüringer“ existieren zahlreiche Theorien. Die lange Zeit übliche Ableitung des Namens von den elbgermanischen Hermunduren wird in jüngster Zeit vereinzelt in Zweifel gezogen, da sie lautgeschichtlich nicht haltbar sei. Stattdessen wird eine Ableitung von einem germanisch-keltischen Stamm der Turonen in Erwägung gezogen. Nach einer vielbeachteten Theorie, die 2002 von Heike Grahn-Hoek vorgelegt wurde, leitet sich der Name der Thüringer (auch Tueringi) von dem der gotischen Terwingen (auch Teruingi) ab.[1] Schon in der Spätantike wurden die beiden Gruppen häufig verwechselt. Fest steht zumindest, dass die Westwärtswanderung verschiedener Gruppen von gotischen Terwingen ab etwa 375 den Anstoß zur Ethnogenese der späteren Thüringer geliefert hat. Zumindest lässt auch die Archäologie einen solchen Schluss zu.
Geschichte
Das Siedlungsgebiet der Thüringer umfasste vor allem Teile des heutigen Mitteldeutschlands, das heißt den Raum zwischen Thüringer Wald, Werra, Harz und Elbe. In der älteren Forschung wurde oft angenommen, sie seien zum Teil aus Gruppen der Hermunduren entstanden, doch wurde dies in jüngerer Zeit bestritten.[2]
Die Thüringer werden erstmals als Toringi um 400 im Werk Mulomedicina des Flavius Vegetius Renatus erwähnt. Über die weitere Geschichte der Thüringer ist bis ins späte 5. Jahrhundert faktisch nichts bekannt; trifft der Bericht bei Sidonius Apollinaris aber zu,[3] so dienten Mitte des 5. Jahrhunderts thüringische Kontingente dem Hunnenkönig Attila. Nach dem Zusammenbruch der Hunnenherrschaft konnten die Thüringer im Raum zwischen Donau, Main und Elbe einen eigenen Herrschaftsraum errichten. Das angebliche Exil des Frankenkönigs Childerich I. in Thüringen ist eher eine sagenhafte Erzählung und daher kaum historisch. Allerdings können Ende des 5. Jahrhunderts durchaus gewisse Kontakte zwischen Franken und Thüringern bestanden haben, wenngleich aufgrund der dünnen Quellenlage vieles offen bleiben muss. Eugippius zufolge (Vita des Severin von Noricum) unternahmen die Thüringer im Verbund mit den Alamannen um 480 Raubzüge gegen Passau und andere Städte an der Donau.
Der erste namentlich bekannte und historisch gesicherte Thüringerkönig war Bisinus, der um 500 herrschte. Sein Reich erstreckte sich nach Süden vermutlich über den Main hinaus möglicherweise fast bis zur Donau. Bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts lag die ostfränkische Region im Spannungsfeld zwischen Thüringern und Alamannen. Der Geograph von Ravenna schreibt im 7. Jahrhundert, dass die Flüsse Naab und Regen (in der heutigen Oberpfalz) im Land der Thüringer in die Donau münden. Die vermutete Ausdehnung des thüringischen Machtbereiches in die Maingebiete ist allerdings nicht sicher nachzuweisen. In Oberfranken scheinen bis zur Eroberung durch die Franken eher Beziehungen zu böhmischen Kulturgruppen bestanden zu haben. Möglicherweise war hier eine einheimische elbgermanische Bevölkerungsgruppe als Traditionsträger vorherrschend.[4] Heike Grahn-Hoek geht allerdings davon aus, dass sich das Thüringerreich auf seinem Höhepunkt im frühen 6. Jahrhundert über weite Teile der rechtsrheinischen Germania erstreckt habe und die Thüringer damit in diesem Raum eine Vormachtstellung ausgeübt haben.[5] Das Thüringerreich war jedenfalls um 500 das mächtigste germanische Reich außerhalb der alten römischen Reichsgrenzen und somit ein wichtiger Machtfaktor im Raum zwischen Rhein und Donau.
Gregor von Tours schrieb Ende des 6. Jahrhunderts in seinen Historien von Thoringern, welche linksrheinisch und in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Franken lebten.[6] Daraus wurde geschlossen, dass um 500 neben dem ostrheinischen Thüringerreich noch ein kleineres linksrheinisches Thüringerreich existiert habe. Ob es jedoch ein solches Thüringerreich am Rhein gegeben hat, ist sehr fraglich. In der neueren Forschung wird die Existenz eines linksrheinischen Thüringerreiches eher abgelehnt, da es sich um eine Fehldeutung Gregors gehandelt habe.[7]
Bei Gregor von Tours werden nach Bisinus als Könige der Thüringer die Brüder Baderich, Herminafried und Berthachar erwähnt. Baderich wurde eventuell vor Beginn der folgenden fränkischen Invasion getötet, doch ist dies unsicher. Möglicherweise sind er und Berthachar erst während der fränkischen Invasion (531) gefallen. Schließlich blieb nur noch Herminafried als eigenständiger König übrig. Er war wohl schon zuvor der mächtigste der drei Brüder[8] und heiratete die Gotin Amalaberga, eine Nichte des Ostgotenkönigs Theoderich. Mit dem Tod Theoderichs 526 endete dis bisherige Ausgleichspolitik unter den Germanenreichen im Westen. Für die Franken ergab sich eine günstige Gelegenheit, die Thüringer anzugreifen. Das Thüringerreich scheint zudem durch die vorherigen Bruderkämpfe geschwächt worden zu sein.[9]
In einer Reihe von Schlachten, wobei die letzte 531 an der Unstrut stattgefunden haben soll (siehe Schlacht bei Burgscheidungen), besiegten die merowingischen Franken schließlich die Thüringer unter König Herminafried. Eventuell wurde die Franken dabei von den Sachsen militärisch unterstützt.[10] Durch Flucht, Deportation und Mord fand die thüringische Königsfamilie ihr Ende. Die letzte Angehörige des Königshauses, Radegundis, starb 587 im fränkischen Exil und wurde später heiliggesprochen.
Die weitere Entwicklung Thüringens aus dem Reich der Thüringer wird im Artikel Geschichte Thüringens (Mittelalter) dargestellt.
Könige der Thüringer
- um 500 Bisinus
- 510(?)–534 Herminafried
→ Siehe auch Liste der Herrscher von Thüringen.
Literatur
- Günter Behm-Blancke: Gesellschaft und Kunst der Germanen. Die Thüringer und ihre Welt. Verlag der Kunst, Dresden 1973.
- Helmut Castritius u.a. (Hrsg.): Die Frühzeit der Thüringer: Archäologie, Sprache, Geschichte (Ergänzungsband zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde). de Gruyter, Berlin/New York 2009.
- Heike Grahn-Hoek: Stamm und Reich der frühen Thüringer nach den Schriftquellen. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56, 2002, S. 7–90.
- Detlef Ignasiak: Die Fürstenhäuser Thüringens. quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2000, ISBN 3-931505-50-2
- Werner Mägdefrau: Geschichte Thüringens vom Untergang des Königreiches (531) bis zur Begründung der Landgrafschaft im 12. Jahrhundert. Selbstverlag, Jena 1998.
- Karl Peschel: Thüringen in ur- und frühgeschichtlicher Zeit. Beier & Beran, Wilkau-Haßlau 1994, ISBN 3-930036-03-7.
- Steffen Raßloff: Geschichte Thüringens. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60523-9.
Anmerkungen
- ↑ Heike Grahn-Hoek: Stamm und Reich der frühen Thüringer nach den Schriftquellen. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56, 2002, S. 13ff.
- ↑ Matthias Springer: Zwischen Thüringern und (H)Ermunduren besteht keinerlei Zusammenhang. In: Helmut Castritius (Hrsg.): Die Frühzeit der Thüringer. Berlin/New York 2009, S. 135ff.
- ↑ Sidonius Apollinaris carm. VII 323
- ↑ Jochen Haberstroh: Der Reisberg bei Scheßlitz-Burgellern in der Völkerwanderungszeit. Überlegungen zum 5. Jahrhundert n.Chr. in Nordbayern. Mit einem Beitrag von Jörg Faßbinder. GERMANIA 81-1, 2003 Zusammenfassung (PDF-Datei; 106 kB)
- ↑ Heike Grahn-Hoek: Stamm und Reich der frühen Thüringer nach den Schriftquellen. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56, 2002, S. 67ff.
- ↑ Gregor von Tours, Historien 2,9.
- ↑ Vgl. allgemein Heike Grahn-Hoek: Gab es vor 531 ein linksrheinisches Thüringerreich?. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 55, 2001, S. 15–55.
- ↑ Heike Grahn-Hoek: Stamm und Reich der frühen Thüringer nach den Schriftquellen. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56, 2002, S. 56f.
- ↑ Heike Grahn-Hoek: Stamm und Reich der frühen Thüringer nach den Schriftquellen. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56, 2002, S. 50ff.
- ↑ Heike Grahn-Hoek: Stamm und Reich der frühen Thüringer nach den Schriftquellen. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56, 2002, S. 65f.