Athis (Mythologie)

Nattier, Athis und Lycabas im Vordergrund, rechts unten.

Athis ist ein Halbgott der Klassischen Mythologie. Seine Geschichte findet sich nur bei Ovid, Metamorphosen, Vers 47 (Geburt des Athis) bis Vers 73 (Tod seines Freundes Lycabas), eingebettet in die Kampfszenen des Perseus-Phineus-Mythos.

Familie und Schauplatz

Athis ist sechzehn Jahre alt. Er stammt aus Indien, wurde im Wasser geboren von Limniace (oder Limnate, Limnaea, Klematie, handschriftlich nicht geklärt[1]), einer Nymphe des Ganges, der Vater ist unbekannt. Er und sein Freund, der Assyrer Lycabas, gehören zum Gefolge des Phineus. Der Ort des Geschehens, ein festlicher Saal in dem Palast des Kepheus, liegt in Aithiopia.

Erzählung: Kampf und Tod

Perseus und Andromeda feiern Hochzeit. Phineus, Andromedas Onkel und ehemaliger Verlobte, überfällt die Hochzeitsgesellschaft, um sie zurückzuerobern. Es kommt zu einem blutigen Gemetzel, in dem Athis, ein Krieger aus dem Gefolge des Phineus, mit dem Bogen auf Perseus zielt. Doch noch bevor er den Pfeil abschießen kann, zerschmettert Perseus seinen Kopf mit einem Holzklotz. Lycabas, Athis’ Freund und Kampfgefährte, beklagt seinen Tod und setzt den Angriff auf Perseus mit dessen Bogen fort, kommt auch zum Schuss, aber Perseus weicht aus, geht zum Gegenangriff über und durchbohrt seine Brust mit dem Schwert. Der sterbende Lycabas wirft sich auf seinen geliebten Freund und stirbt in der tröstenden Vorstellung des gemeinsamen Todes. Der Kampf geht weiter, am Ende bezwingt Perseus den Phineus mit dem Haupt der Medusa.

Interpretation: Eros und Tod

Es sind keine Vorbilder bekannt, vielleicht hat Ovid die Geschichte erfunden oder eine andere, wie zum Beispiel Vergils Erzählung über Euryalus und Nisus, aus dem Epischen übernommen und in das Elegische umgewandelt. Er hat die Athis-Lycabas-Erzählung (Vers 47–73), obwohl in ihr keine Metamorphosen geschehen, als retardierendes Moment in den langen Proteus-Phineus-Kampf (Vers 1–249) eingebaut.

Vordergründig ist es eine bedeutungslose Gefechtsszene[2], deren Kern eine tiefergehende Liebesgeschichte enthält, und das ist Ovids Interesse und Metier.[3] Das zeigt sich genau in der Mitte der Episode, Vers 60–61, Prosaübersetzung: Er (Lycabas) war jenem (Athis) überaus verbunden und (ein) Gefährte (Freund) und kein Leugner der (seiner) wahren Liebe (zu Athis) …[4] Der Elativ iunctissimus (überaus verbunden) und die Litotes non dissimulator (kein Leugner), eingeschlossen vom Hyperbaton veri (der wahren) ... amoris (Liebe), betonen die enge Liebesbeziehung.[5]

Zur Unterstützung dieser engen, vielleicht sogar homosexuellen Beziehung hat Ovid Athis’ Aussehen keine episch-heroisch-männlichen, sondern eher elegisch-feminine Züge verliehen[6], Vers 49–53, Prosaübersetzung: (Athis) … herausragend an Schönheit, die er durch reiche Kleidung steigerte, bisher unversehrt in zweimal acht Jahren (sechzehn Jahren), bekleidet mit einem tyrischen (purpurfarbigen) Mantel, den ein goldener Saum umfloss; goldene Halsbänder schmückten den Hals und ein gewölbtes Band (Diadem) die mit Myrrensaft befeuchteten Haare.[7] Ob Ovid mit dieser Darstellung einen Transvestiten (Cross-Dressing)[8] oder einen für ihn typischen Orientalen gezeichnet hat[9], bleibt offen.

Am Ende wird die Liebesbeziehung wieder aufgegriffen und erfährt im Sterben noch eine erotische Steigerung, Vers 70–73, Prosaübersetzung: Aber jener (Lycabas), schon sterbend, drehte seine Augen, die in der schwarzen Nacht versanken, herum auf Athis, und er neigte sich hin zu jenem, und er nahm den Trost des vereinten Todes mit in den Tod.[10] Am Ende steht der tröstende Tod, solacia mortis, denn sie sterben gemeinsam und sind im Tode vereint. Dies wird stilistisch betont durch die Klimax des sich verlängernden Trikolons: zwei Glieder: circumspexit Athin, drehte herum auf Athis – vier: seque … illum, neigte sich ... zu jenem – sieben: et tulit … mortis, und nahm ... mit ... in den Tod; und durch das den Trost, solacia, einschließende Hyperbaton: iunctae … mortis.

Rezeption

Athis inca – Walker 1834
  • Carl Ditters von Dittersdorf: Symphonie, Nummer 5, D-Dur, Die Versteinerung des Phineus und seiner Freunde, 2. Satz, Allegro molto, Athis' Angriff und Tod.
  • Jean-Marc Nattier: Gemälde, Perseus versteinert Phineus und seine Begleiter mit dem Haupt der Medusa, 1718. Rechts im Vordergrund liegt auf einem blauen Umhang mit Goldsaum Athis mit blutiger Schläfe; daneben Lycabas, rechter Arm über Athis, die Hand am Bogen, rechts neben ihm sein Helm und Pfeilköcher.
  • Sein Name wurde vergeben für eine Schmetterlingsgattung aus der Familie der Castniidae von Jacob Hübner 1819.

Quellen und Literatur

  • Moriz Haupt (Herausgeber): Die Metamorphosen (lateinisch), mit Erklärungen (deutsch), Weidmann, Berlin 1862
  • Franz Bömer: Metamorphosen, Kommentar, Buch IV–V, Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1976
  • William Scovil Anderson: Ovid’s Metamorphoses, books 1–5, University of Oklahoma Press, Norman 1997, Text mit Einführung und Kommentar

Belegstellen

  1. „Der Name Limnate, in dem die Handschriften schwanken ohne eine Verbesserung darzubieten, ist unrichtig gebildet.“ Haupt, Anmerkung, Vers 48, Seite 163, siehe Literatur.
  2. „Ovid introduces Athis and his friend Lycabas as a pretty episode, of next to no significance in this utterly meaningless battle.“ Anderson, Seite 503, siehe Literatur.
  3. Als tenerorum lusor amorum, Dichter zärtlicher Liebesgeschichten, nennt er sich selbst auf seiner Grabinschrift, Tristien, Buch 3, Gedicht 3, Vers 73.
  4. 60 ... iunctissimus illi
    61 et comes et veri non dissimulator amoris.
  5. „Der ἐραστής (erastēs, Liebhaber) will den ἐρώμενος (erōmenos, Geliebten) rächen.“ Bömer, Seite 244, siehe Literatur.
  6. „Ovid … turning his Athis into a richly dressed, elegiac figure of contemporary Rome.“ Anderson, Seite 504, siehe Literatur.
  7. 49 … egregius forma, quam divite cultu
    50 augebat, bis adhuc octonis integer annis,
    51 indutus chlamydem Tyriam, quam limbus obibat
    52 aureus; ornabant aurata monilia collum
    53 et madidos murra curvum crinale capillos.
  8. „The point of such charges is that anyone who fixes his hair that way is soft and averse to masculine activities like war. Yet here Athis sidles out to fight with scented locks!“ Anderson 1997, Seite 504, siehe Literatur.
  9. „Der Schmuck charakterisiert hier den Athis als weichlichen Orientalen und als puer, d. h. als ἐρώμενος (erōmenos, Geliebten), nicht als Kind.“ Bömer, Seite 74, siehe Literatur.
  10. 70 … at ille
    71 iam moriens oculis sub nocte natantibus atra
    72 circumspexit Athin, seque adclinavit in illum,
    73 et tulit ad manes iunctae solacia mortis.

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